Jenseits des Selbstverständlichen

Über das weite Land der Seele Betrachtungen eines Psychiaters

Haag + Herchen Verlag Frankfurt a. Main 2009

 

INHALT

VORWORT

NORMALITÄT UND VERRÜCKTHEIT
Die Vielfalt des Normalen
Psychosen - böse Geschwister der Träume
Seelische Phänomene
Kein Platz auf dieser Erde?

RÜCKBLICK UND GEGENWART
Die unbehandelbaren »Geisteskrankheiten«
Fieber, Schock und Krampfanfall
Die Elektrokrampftherapie
Die Psychopharmaka
Die Gesprächstherapie

DIE LEIB-SEELE-BEZIEHUNG
Welchen Dienst leistet der Körper der Seele?
Welchen Dienst leistet die Seele dem Körper?
Psychosomatik - Somatopsyche
Vegetatives System und leibnahe Gefühle
Starre- und Lähmungszustände
Das Hysterische und seine Ausläufer

DIE PSYCHISCHE GESCHLECHTERDIFFERENZ
Was ist männlich, was ist weiblich?
Jungen und Mädchen
Romantische Liebe und Geschlechterkampf
Treueproblem und Körper-Seele-Einheit

DER KÖRPER
Das Wasser des Meeres
Die Grenzen
Symmetrien und das Kreuzen der Bahnen
Der Umgang des Körpers mit Energie
Zentral-vegetative Strukturen
Das antagonistische Steuerprinzip

IM ZENTRUM DER SEELE
Stimmung und Emotionen
Polare Organisation gegensätzlicher Stimmungen
Angst
Weitere Aspekte der Angst
Depressionen
Vegetative Bewegung und Rückbildung endogener Depressionen

SCHLUSSBETRACHTUNG - DIE »DRITTE KOPERNIKANISCHE WENDE«
Suche nach dem Archimedischen Punkt
Der ins Glied gestellte Mensch
Autonomes Ich und seelischer Hintergrund
Unsere täglichen Entscheidungen

 

 

LESEPROBE

 

VORWORT

In der Bibel, in der über die ältesten menschlichen Erfahrungen berichtet wird, heißt es in dem Alten Testament, dass der Mensch nach den Pflanzen und den Tieren geschaffen wurde und eine »lebendige Seele« ward, nachdem er göttlichen Odem erhielt (1. Mose 2,7).

Dieser biblischen Vorstellung entsprechend führt auch die ärztliche Betrachtung des Menschen auf eine Zweiteilung, da sich der Körper den Sinnen in einer anderen Weise als die Seele erschließt. Der Körper hat eine materielle Struktur, die mit den Händen zu begreifen ist. Er lässt sich vermessen und zeichnen und seine Bausteine, die Zellen, lassen sich anfärben und mit dem Mikroskop untersuchen. Niemand bezweifelt, dass der Körper nach dem Tod zu Staub zerfällt

Demgegenüber fließen in die Seele, die wir als immateriell erleben, ganz unterschiedliche Vorstellungen ein, z. B. religiöse Überzeugungen, Weltanschauungen und auch Bedürfnislagen. So neigen viele Menschen dazu für gut und wahr zu halten, was ihnen sympathisch ist. Bei der Frage, ob die Seele auch nach dem Tod besteht, kommen häufig Unsicherheit und Zweifel auf. Bereits Aristoteles stellte die Frage, wie die Seele überhaupt in dem Körper befestigt sein könnte und wusste sie nicht zu beantworten. Viele Menschen glauben, dass die Seele den Körper nach dem Tod verlässt, andere glauben an Wanderungen der Seele, an Wiedergeburten und wiederum andere sind überzeugt, dass dann unsere Existenz endgültig beendet ist. Haben ebenfalls Tiere eine Seele? Auch diese Frage hat die Menschen bewegt und wird sie stärker bewegen, wenn ihnen die Strukturen ihrer eigenen Seele bewusst werden. In Prediger 2,19 heißt es: Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fährt und der Odem des Tieres unterwärts unter die Erde fahre.

Der Standpunkt, der in diesem Buch über die Seele vertreten wird, ergibt sich aus der Sicht eines Psychiaters, der in einer Fachklinik jahrelang Patienten mit seelischen Störungen behandelt hat, meist am Krankenbett. Das psychiatrische Verständnis der Seele - wir beziehen in diesen Begriff auch den Geist mit ein - basiert auf weitgehend nachprüfbaren Merkmalen, z. B. dem Verhalten und der Persönlichkeit eines Menschen, ferner auf seinen Gedanken, seinen Gefühlen und seinem Welterleben. Es zeigt sich auf dieser Ebene, dass eine Teilung des Menschen in Körper und Seele in unauflösba­re Widersprüche führt, da der lebendige Körper und seine Seele eine Einheit bilden, auch wenn diese Einheit gestört sein kann.

Um der Klarheit willen sollte der Leser die unterschiedlichen Betrachtungsebenen der Seele nicht vermischen. Die psychiatrische Betrachtung der Seele (= Psyche) endet mit dem Lebensende eines Menschen, während ihre religiöse Bedeutung gerade dann in den Vordergrund tritt. Heute wissen wir, dass es der gleiche Mensch ist, der seelisch krank oder gesund ist, doch gerade Krankheiten führen den Menschen in Grenzzustände seiner Existenz. Da Grenzzustände die Eigenschaft haben, die zwischen ihnen liegende Norm zu be­leuchten, werfen sie in diesem Fall auch Licht auf unsere seelische Normalität und eröffnen eine Orientierung für unser eigenes Seelen­verständnis. Zudem sind Krankheiten objektiv! Es ist bemerkens­wert, dass seelische Störungen und Krankheiten nicht nur zwischen Jung und Alt, sondern auch zwischen Männlich und Weiblich unter­scheiden und daher auf eine prinzipielle seelische Geschlechter­differenz hinweisen. Auch zeigt sich, dass die Psyche (= Seele) mit der »Spitze eines Eisbergs« verglichen werden kann, weil sie von einem unsichtbaren Unterbau getragen wird, der uns in das Dunkel des Unbewussten und die Nacht des Außerbewussten führt.

Für das medizinische Verständnis der Seele ist ferner aufschluss­reich, wie aus historischer Sicht der Durchbruch bei der Behandlung der »Geisteskrankheiten« gelang, die noch vor wenigen Jahrzehnten mit dem Stigma der Unheilbarkeit belegt waren. Doch wie kein an­deres Fach führt die Psychiatrie, die auch die Seelenheilkunde oder kurz die Medizin der Seele genannt wird, die Subjektivität mensch­licher Anschauungen vor Augen. Die objektive Wirklichkeit ist das eine, die daraus entstehende Wirklichkeit des Einzelnen das andere. Dies freilich ist dem Autor auch in eigener Sache bewusst: Für seine Betrachtungen ist daher einzuräumen, dass über das weite Land der Seele ein anderer Standpunkt bezogen werden könnte.

 

NORMALITÄT UND VERRÜCKTHEIT

Das Selbstverständliche stammt aus der Gewohnheit. Mit dem Beginn unserer Existenz, die als ein einzelliges Wesen im Mutterleib beginnt, wachsen wir stetig in unser tägliches Leben hinein und nehmen die seelischen Leistungen, die sich aus dieser Entwicklung er­geben, nicht gesondert wahr. Auch glauben wir, dass unsere Mitmenschen die Dinge in der gleichen Weise sehen und erfahren wie wir selbst und haben daher Erwartungen an sie, die unseren eigenen Vorstellungen entsprechen, d. h. dass sie ähnlich wie wir denken und fühlen und sich verhalten. Doch schon bei der Erziehung zeigt sich das Subjektive unseres Standpunktes und obwohl z. B. Eltern mit all ihren Kräften und oft nicht enden wollenden Reden bemüht sind, ihre Kinder zu diesem oder jenem Verhalten zu bewegen, sind ihre Anstrengungen häufig vergeblich.

Zu den Erfahrungen eines Psychiaters gehört es, ......